Die „Übergangsregierung“ in Kiew hat sich dafür entschieden die Demonstrationen in Kharkow, Donezk und Lugansk mit Gewalt nieder zu schlagen. Auf Youtube findet man zahlreiche Amateuraufnahmen, die Militäreinheiten und sogar schweres Gerät zeigen, das in die Städte der Ostukraine gebracht wird. Obwohl Einheimische versuchen das ganze zu unterbinden, zieht Kiew immer mehr loyale Polizisten und Kräfte aus anderen Regionen der Ukraine im Osten zusammen. Sogar private Sicherheitsfirmen wie Greystone Ltd., Sondereinsatzkommandos des ukrainischen Geheimdienstes und natürlich die unvermeidlichen Schergen des Rechten Sektors befinden sich auf dem Weg in den Osten des Landes.
Ihnen gegenüber stehen meist unbewaffnete oder nur mit leichten Waffen ausgestattete Zivilisten, die in ihrer Zahl zunehmen und die versuchen Kiews „Eingreifgruppen“ mit Barrikaden aufzuhalten.
Die derzeitige Situation in der Ostukraine ist durchaus vergleichbar mit Russland (!) im Jahre 1993. Damals wurde das russische Parlament in ähnlicher Weise von Zivilisten beschützt: Außerhalb von Bürgern und innerhalb des Gebäudes von teils bewaffneten Oppositionellen. Als dann der Staat sein Gewaltmonopol einsetzte, zerstreuten sich sich die Demonstranten außerhalb des Regierungsgebäudes sehr schnell, während die im Gebäude befindlichen aufgefordert wurden aufzugeben. Viele derjenigen, die kapitulierten wurden beim Verlassen des Gebäudes gejagt, geschlagen und zum Teil ermordet. Diejenigen, die sich dagegen aussprachen, bezahlten ihren Widerstand meist mit ihrem Leben. Eine ähnliche Situation baut sich gerade in der Ostukraine auf und könnte in den nächsten Tagen zu den gleichen Folgen führen.
Denn was 1993 in Russland funktioniert hat, sollte auch 2014 funktionieren. Gerade dann wenn man als „Übergangsregierung“ nach Einnahme der Regierungsgebäude die Schuld für die Opfer den zehn bis fünfzehn toten „Terroristen“ in die Schuhe schieben kann, die sich nicht ergeben haben und sich gegen Kiew gestellt haben.
Nun mag der Eine oder Andere einwerfen, dass in einem solchen Fall Moskau eingreifen und Truppen schicken würde. Doch würde Putin das wirklich tun?
Nach der Aufassung Moskaus wäre ein solches Szenario keine „Massengewalt“, die ein Eingreifen notwendig machen würde. Auch weil Putin abwägen müsste, wie sich die Anzahl der getöteten Widerständler im Verhältnis zu der Anzahl an Toten bei einem militärischen Eingriff darstellen würde. Putin hat in einer öffentlichen Veranstaltung seiner Partei etwas Interessantes gesagt: Vor dem Referendum in der Krim hatte Moskau eine geheime Umfrage gestartet, um die öffentliche Meinung zum Thema Abspaltung auszuloten. Dabei wurde seitens Russland mit einer Zustimmungsquote von 80% gerechnet. Letztendlich wurden es sogar 97%. Daher kann man sich ziemlich sicher sein, dass Russland auch im Falle der Ostukraine eine solche Befragung gestartet hat, um die Stimmung einzufangen. Was wir jedoch nicht wissen, ist das Ergebnis dieser Umfrage. Und sicherlich ist die Ostukraine nicht mit der Krim zu vergleichen, was die Zustimmungsraten für eine Anlehnung an Moskau betrifft.
Die Lage in der Ostukraine ist wesentlich komplexer als auf der Krim. Nicht nur das die Krim als Halbinsel leichter zu kontrollieren, einzunehmen und dementsprechend zu steuern ist. Bei der Ostukraine stellt sich die Frage für Moskau, wo die Ostukraine bei einem solchen Vormarsch enden sollte. In Lugansk? In Donezk oder in Kharkow? An welcher natürlichen Grenze sollte Russland einen eventuellen Einmarsch beenden?
Eine natürliche Grenze würde der Dniepr darstellen und bis dorthin würden zahlreiche Menschen sterben – auf beiden Seiten. Natürlich könnte Moskau versuchen durch den Einsatz von Helikoptergestützten Spezialeinheiten in der Ostukraine einzugreifen. Doch auch hier gilt es enorme Risiken und Kosten zu berücksichtigen. Beides Punkte, die Russland nur bereit wäre einzugehen, wenn es sich um eine kurze, zielgerichtete Operation handeln würde, die insbesondere eine sogenannte „Exit Strategy“ bei einem Scheitern beinhaltet.
Viel wahrscheinlicher ist es, dass Moskau die Zeit für sich spielen lassen wird und den ökonomischen Druck, der sich zunehmend auf dem Kiewer Regime aufbaut, nutzen wird, um seine Ziele zu erreichen. Wie bereits von mir ausgeführt, erfolgen russische Gaslieferungen an die Ukraine nur noch per Vorkasse, was bei Schulden von 16 Milliarden US-Dollar an Russland nachvollziehbar ist. Nicht zu vergessen ist, dass es gerade der Osten der Ukraine ist, der die Gesamtukraine wirtschaftlich am Leben erhält. Und sollte sich Russland entschliessen den „Stecker für die Ostukraine“ zu ziehen, wäre das für die Ukraine katastrophal. Genauso wie das Ende von Importen in die Ukraine durch das Schließen der russischen-ukrainischen Grenze. Beides könnte der Westen nicht verhindern und es würde – trotz etwaiger „Hilfen“ durch die EU/USA – nur Monate dauern bis die „Übergangsregierung“/neue Regierung in Kiew fallen würde. Und genau aus diesem Grund stellt sich die Frage: Warum sollte Russland jetzt militärisch eingreifen?
Bislang muss Putin noch nicht handeln – zumindestens solange wie die Lage nicht außer „Kontrolle gerät“.
Man kann die Ukraine mit einem Apfel vergleichen, in dem ein Wurm sich satt frisst. Der Wurm sind die Neonazis, die in Kiew die Macht an sich gerissen haben. Sie zerstören die Einheit der Ukraine durch ihre Aktionen und ihr Auftreten. Solange sie vom Westen akzeptiert werden, solange wird auch der Apfel weiter verrotten bis er zu Boden fällt. Und egal was der Westen unternimmt um den Apfel zu „retten“, das einzige was wirklich helfen kann, ist den Wurm los zu werden. Aber das wird nicht passieren, schließlich hat der Westen den Wurm dort platziert und will ihn auch weiterhin gezielt benutzen.
Bleibt man in diesem Bild, ist es für Russland weit besser den Apfel verrotten zu lassen bis er auf den Boden fällt und zu sehen was daraus neu erwächst. Die Ukraine ist derzeit ein Staat voller Probleme, die Russland nicht brauchen kann:
Braucht Russland all das oder besser: Will Russland sich ein solches Gebilde ans Bein binden und sich damit selbst schwächen?
Moskau kann nicht einfach in die Ukraine einmarschieren, dort alles zerstören und dann wieder verschwinden. Derzeit ist es der Westen der dort alles zerstört, um Russland soweit zu reizen, dass der russische Bär den ersten fatalen Schritt unternimmt.
Das vom Westen angedachte Projekt einer „unabhängigen und anti-russischen Ukraine“ muss und wird von alleine scheitern – ohne militärisches Zutun Russlands, so wie bereits 2004. Leider ist es dabei so, dass dieses „Experiment“ nicht ohne Gewalt und unter zahlreichen Opfern Unschuldiger beendet werden wird. Putins einzige Option ist zu versuchen dieses „Scheitern“ mit so wenig Opfern/Schäden wie irgend möglich zu begleiten. Und eine militärische Intervention wäre das genaue Gegenteil davon – außer die Lage verschärft sich so dramatisch, dass Putin keine andere Wahl mehr bleibt als einzugreifen.
Um das ganze nochmals zusammen zu fassen:
Es ist zu befürchten, dass in den nächsten Tagen die Gewalt in der Ostukraine zunehmen und Kiew versuchen wird die Menschen gegenseitig auszuspielen. Und wenn wir auf die Eingangs erwähnte Situation 1993 in Moskau zurück schauen: Es finden sich immer Menschen, die die eigenen Bevölkerung ermorden, solange sie dabei unbeobachtet sind. Es ist nichts einfacher als einen Massenmord in einem brennenden Gebäude zu vertuschen. Denn ganz nach der heutigen Logik vieler Menschen: „Was nicht im Fernsehen zu sehen ist, ist auch nie passiert.“
Es bleibt zu hoffen, dass ich mich mit dem Geschriebenen irre. Aber betrachtet man die Vergangenheit und die wirtschaftliche und finanzielle Lage in der sich unsere Welt befindet, bewegen wir uns derzeit auf Messers Schneide – mit der Option sowohl nach rechts (Deeskalation) als auch nach links (Krieg) zu fallen.
Quellen:
Russia might very soon do something rather counter-intuitive: nothing at all
Russia can’t support Ukrainian economy forever – Putin