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Geopolitik: Das Pulverfass KaschmirLesezeit: 10 Minuten

Dass unsere Hochleistungspresse selektiv berichtet, gerne wichtige Fakten außen vorlässt oder schlichtweg einmal falsche Bilder nutzt, um das gewünschte Narrativ transportieren zu können, ist zahlreich belegt. Die Krise im Kaschmir bildet hier keine Ausnahme. Oder fühlen Sie sich ausreichend informiert, was den Konflikt in der Grenzregion Indien, Pakistan und China anbelangt?

Vor über einer Woche kam es zu einer ominösen Entscheidung der indischen Regierung, als man dem halbautonomen Bundesstaat Jammu und Kaschmir im Norden Indiens seinen Sonderstatus aberkannte. Konnte man bislang eigene Gesetze in und für sein Gebiete erlassen, wie das Kaufverbot für Inder anderer Bundesstaaten in der Region Immobilien zu erwerben, ist dies nun passé. Tatsächlich ist es sogar so, dass die Einwohner Kaschmirs nicht einmal mehr im Bundesstaat Jammu und Kaschmir leben; sie sind nun Einwohner der zwei Bundesstaaten umfassenden neu geschaffenen Union Territories namens Jammu und Kaschmir bzw. Ladakh.

Jetzt wird sich der eine oder andere Leser fragen, was interessiert mich ein Grenzkonflikt bzw. eine Auflösung eines Sonderstatus in Kaschmir? Diese Frage ist einfach zu beantworten. Denn diese Region ist eine der militarisiertesten und volatilsten geopolitischen Bruchlinien der Welt. Daher lohnt sich ein detaillierter Blick:

1. Die rechtliche Perspektive

Narendra Modi - Bildquelle: Wikpedia / Narendra Modi, Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“

Narendra Modi – Bildquelle: Wikpedia / Narendra Modi, Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“

Die Abschaffung der Privilegien des halbautonomen Bundesstaates Jammu und Kaschmir verändert nicht nur das Regieren von Ort, sondern hat massiven Einfluss auf Gesamtindien und seine Politik. Amit Shah, der indische Innenminister und die rechte Hand des Premierministers Narendra Modi, hatte bereits am Montag letzter Woche dem Parlament einen spezielle Präsidentenerlass vorgelegt, der die Passagen in der indischen Verfassung bzgl. des Status der Region Jammu und Kaschmir novellierte. Dieser Schritt folgte kurz nach der Annahme des Jammu and Kaschmir Reorganisation Bill 2019, der diesen Bundesstaat in zwei Union Territories aufspaltet, die dann allein unter der Kontrolle und Verwaltung der indischen Regierung stehen.

Um die Gemengelage und „Gefühlswelt“ zu verstehen, die ein solcher Schritt auslöst, ist ein Blick in die Geschichte Indiens von Nöten. Bis 1947 war Jammu und Kaschmir ein Teil des Britischen Empires in Indien. Als Großbritannien den Subkontinent verließ, planten die damaligen Herrscher von Jammu und Kaschmir unabhängig sowohl von Pakistan als auch von Indien bleiben zu wollen. Unruhen innerhalb der Region und Angriffe von außen zwangen jedoch die Anführer ein Instrument of Accession (Urkunde) über den Beitritt zum indischen Königreich zu unterzeichnen. Diese Urkunde umgibt einen regelrechten Mythos, so dass einige Forscher daran zweifelten, ob sie überhaupt existiert. Erst 2016 veröffentlichte The Wire Scans der Originaldokumente. Die Urkunde sicherte Jammu und Kaschmir eine gewisse Autonomie innerhalb des Konstrukts Indien zu – inklusive einer Zusicherung, dass der Maharaja Hari Singh in seinen politischen Handlungen, was seine Region anbelangt, souverän bleibt und dass die Unterschrift unter dem Dokument nicht besagt, dass Jammu und Kaschmir „zukünftige Änderungen an der Verfassung Indiens zu akzeptieren habe“ oder dass es „mein Ermessen beschränkt, Vereinbarungen mit der indischen Regierung im Rahmen einer solchen künftigen Verfassung zu treffen“.

Artikel 370 der indischen Verfassung sicherte Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus innerhalb des Königreiches Indiens zu und erlaubte der Region eine eigene Verfassung zu besitzen bzw. welche Teile der indischen Verfassung in die eigene einfließen sollten. Eine nachträgliche Bestimmung (Artikel 35A der indischen Verfassung, die 1954 angenommen wurde) schützte explizit diesen Sonderstatus und limitierte zudem, wer ein dauerhafter Einwohner von Jammu und Kaschmir werden konnte und wer Land in der Region kaufen durfte. Zudem besagt Artikel 370, dass Änderungen des Sonderstatus nicht ohne der Zustimmung der politischen Vertretung Jammu und Kaschmirs durchgeführt werden können.

Es gibt allerdings ein Problem: diese politische Vertretung wurde schon 1956 aufgelöst. Und trotzdem wurde bis letzte Woche Montag – nicht nur von den Bewohnern Jammu und Kaschmirs – daran festgehalten, dass die Region weiterhin diesen Sonderstatus besitzt.

Um aus dieser „politischen Sackgasse“ heraus zu kommen, hat die Regierung Modis einfach im Erlass die Worte im Artikel 370 „Constituent Assembly“ durch „Legislative Assembly“ („Verfassungsgebende Versammlung“ zu „Legislative Versammlung“) ersetzt. Und da die „Legislative Versammlung“ im letzten Jahr aufgelöst wurde und deren Befugnisse auf die indische Regierung übergingen, wird damit Artikel 370 aufgehoben.

Dieser politische Schachzug führt natürlich zu massiven Diskussionen, Interpretationen und Verfassungsklagen. So zitiert beispielsweise die Associated Press indische „Rechtsexperten“, die aussagen:

Der Prozess, durch den Neu-Delhi den Präferenzstatus, den Jammu und Kashmir in der Verfassung erhalten, aufgehoben und Jammu und Kaschmir in zwei Unionsgebiete aufgeteilt hat, ist verfassungsrechtlich anfällig.

(The process by which New Delhi has scrapped the preferential status accorded to (Jammu and Kashmir) by the constitution and split Jammu and Kashmir into two union territories is constitutionally vulnerable.)

Oder in anderen Worten: es wird zu zahlreichen politischen und rechtlichen Auseinandersetzungen innerhalb des indischen Rechtssystem und im indische Parlament kommen, bevor die Region wieder zur Ruhe kommen kann.

Aber zurück zur Ausgangsfrage nach diesem historischen Abriss: was interessiert uns ein Grenzkonflikt in Kaschmir?

2. Der geopolitische Blickwinkel

Imran Khan - Bildquelle: Wikipedia / www.kremlin.ru; Namensnennung 4.0 international

Imran Khan – Bildquelle: Wikipedia / www.kremlin.ru; Namensnennung 4.0 international

Die Region Kaschmir umfasst ein Gebiet, dass in drei Ländern liegt. Alles drei sind Atommächte, die seit Menschengedenken um diese Region Kriege führen. Und alle diese Länder verfolgen eigene politische, militärische und ökonomische Interessen. Mit dem aufstrebenden Indien, dem indischen Erzfeind Pakistan und dem Großrivalen China ein wahres Pulverfass. Wie man sich vorstellen kann, wird eine solche massive Änderung des Status Quos auf welcher Seite der Grenze auch immer von den jeweils beiden anderen als internationaler Zwischenfall gewertet.

Gerade Pakistan, das die lokalen Unabhängigkeitsbewegungen in der hauptsächlich muslimisch geprägten Region unterstützt, warnte in der Person des pakistanischen Premierministers, Imran Khan, am vergangenen Dienstag:

Die pakistanische Armee steht den Kaschmiris in ihrem gerechten Kampf bis zum Ende fest zur Seite. Wir sind bereit und werden alles tun, um unsere diesbezüglichen Verpflichtungen zu erfüllen.

(The Pakistan army firmly stands by the Kashmiris in their just struggle to the very end. We are prepared and shall go to any extent to fulfill our obligations in this regard.)

Das sind nicht nur irgendwelche dahergesagten Worte. Bereits am Tag darauf unternahm Pakistan erste Schritte, in dem der bilaterale Handel mit Indien ausgesetzt und die diplomatischen Beziehungen mit Indien auf ein Minimum zurück gefahren wurden. Zudem verwies man den indischen Hochkommissars Ajay Bisaria aus Islamabad und Khan will die Angelegenheit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vorlegen.

China hat durch die Sprecherin des Außenministeriums, Hua Chunying, verlautbaren lassen, dass Indiens Handlungen „inakzeptabel“ sind und dass dieses Vorgehen „keine rechtliche Bindung [für die Kaschmiris] mit sich bringt“. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass Indien und China 2017 ihre eigenen militärischen „Scharmützel“ in Doklam hatten. Beide Staaten stehen sich also nicht gerade freundlich gegenüber.

Um die Dinge zusätzlich zu erschweren, hat natürlich auch die selbsternannte Weltpolizei, die USA, eigene „Sicherheitsinteressen“ in und für diese Region. Das US-Außenministerium ist

über Berichte von Inhaftierungen besorgt und fordert die Achtung der Rechte des Einzelnen und die Diskussion mit den Betroffenen.

(concerned about reports of detentions and urge respect for individual rights and discussion with those in affected communities.)

Washington musste zwischenzeitlich Berichte dementieren, dass die indische Regierung im Vorfeld der überraschenden Aberkennung des Sonderstatus mit Mike Pompeo konferiert habe. Aber wir wissen, dass die USA besondere Interessen in Indien und dessen zukünftige Rolle als „Kopf der indopazifischen Region“ verfolgt. Daher ist es unvorstellbar, dass sich die beiden Regierungen NICHT darüber ausgetauscht haben, wie sie mit den Folgen dieses Ereignisses umgehen sollen.

Dieses spannungsgeladene Szenario hat geopolitische Implikationen (bis hin zu direkten militärischen Auseinandersetzungen), wobei wir aber den eigentlichen, entscheidenden Faktor nicht vernachlässigen dürfen:

3. Die innenpolitische Perspektive

Region Kaschmir - Bildquelle: Wikipedia / Furfur; Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international

Region Kaschmir – Bildquelle: Wikipedia / Furfur; Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international

Es gab und gibt einen Grund, warum Jammu und Kaschmir im Königreich Indiens einen Sonderstatus inne hatte: es ist ein Gebiet, in dem eine eigen Ethnie lebt, die eine eigene Geschichte besitzt. Allein die Tatsache, dass die Region muslimisch geprägt ist, sollte einem zu dem Schluss kommen lassen, dass die Einwohner Jammu und Kaschmir im vom Hinduismus dominierten Indien „einen anderen Stellenwert besitzen“. Ein Ergebnis daraus ist, dass es seit der „Anbindung der Region an Indien“ zu zahlreichen separatistischen Bewegungen (bis hin zu Rebellengruppen) kam, die versuchten ein Teil Pakistans zu werden bzw. eine vollständige Unabhängigkeit der Region von Indien zu erreichen.

Indien hat Jammu und Kaschmir immer als einen „essenziellen Teil Indiens“ betrachtet. Darüber hinaus ist Modis regierende Bharatiya Janata-Partei (BJP) „getrieben von einer rechtshinduistischen chauvinistischen Ideologie“, was Kaschmir zu einer „Generalprobe für nationalistische Fantasien der Hindus“ macht. Oder kurz: Modis Regierung will Indien aus einer nominell säkularen und pluralistischen Demokratie in einen Hindu-dominierten Staat umbauen. Das Aufbrechen der Strukturen in Jammu und Kaschmir ist aus der Sicht der indischen Regierung der erste Schritt, um die Kontrolle der Hindus über die Region und damit auch über die Muslime zu sichern.

Pakistan glaubt dagegen, dass die Kaschmiris „frei“ sein sollten, um eine eigene Wahl treffen zu können (aka als Puffer für Pakistan gegen Indien zu fungieren). Dass Islamabad eigene geheime Interessen in der Region verfolgt, ist offensichtlich. So hat der pakistanische Premierminister Khan korrekterweise darauf hingewiesen, dass jeder Protest und jede Gewalt gegen das indische Militär in Kaschmir als Folge der politischen Entscheidungen der indischen Regierung Pakistan angelastet und als Entschuldigung verwendet werden wird, um weitere militärische Einfälle Indiens nach Pakistan zu rechtfertigen. Darüber hinaus dürfte Pakistan die muslimische Bevölkerung der Region, die offen Sympathie für Islamabad zeigt, als Hebel nutzen wollen, um indische Kräfte zu binden, die dann nicht gegen das eigene Land vorgehen können.

Aber was sagen die Kaschmiris zu all dem selbst? Losgelöst als Schachfigur in einem Stellvertreterkrieg zwischen Indien und Pakistan oder als Faustpfand im Ringen Indiens und Pakistans mit China und dessen Seidenstraßenprojekts herhalten zu müssen?

Eine Antwort darauf ist aktuell nicht möglich, denn die Region wird seit nunmehr über eine Woche komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Dies beinhaltet einen fast vollständigen Ausfall der Kommunikation, die Schließung von Einkaufszentren und Lebensmittelmärkten und sogar Kliniken. Die Kaschmiris können derzeit weder telefonieren, noch anderweitig kommunizieren, und besitzen nur einen eingeschränkten Zugang zu TV und örtlichen Radiosendern.

Die wenigen Berichte aus der Region lassen Schlimmes befürchten und wirken wie aus einer Kriegszone nach einem Atomangriff. Doch selbst die von der indischen Regierung genehmigten Berichte lassen den Schluss zu, dass „die gesamte Bevölkerung von 8 Millionen Menschen mehr oder weniger durch die indische Regierung inhaftiert wurde“.

Inzwischen soll die indische Regierung die Einschränkungen etwas gelockert haben, wie Berichte über Schlangen vor Banken und Geschäfte zeigen. Aber eine massive Militärpräsenz ist nach wie vor in der Region, die jeden Aufstand und jedwede Unruhen im Keim ersticken sollen.

Bei all dem dürfte eines jedoch sicher sein: die Kaschmiris sind die Opfer einer Politik, die sich nicht um die Zukunft dieser Menschen schert. Und es ist zu befürchten, dass sich diese Region zu einem größeren Pulverfass entwickelt…

Quellen:
The Kashmir Crisis
India revokes Kashmir’s special status amid crackdown
Dokument Instrument of Accession
THE JAMMU AND KASHMIR REORGANISATION BILL, 2019
The Backstory of Article 370: A True Copy of J&K’s Instrument of Accession
Governor dissolves J&K Legislative Assembly
Experts question legality of India’s changes in Kashmir
False Flags Over Kashmir: Prelude to WWIII?
Pakistan Expels Indian Ambassador, Suspends Trade Over Kashmir
Pakistan Suspends Trade With India, Downgrades Diplomatic Ties
Pakistan expels Indian High Commissioner Ajay Bisaria, recalls its envoy over Kashmir issue
Pakistan PM Khan says plan to approach UN Security Council over Kashmir issue
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