Wann immer die Sprache auf Indien kommt, wird davon gesprochen, dass dort der nächste „Wirtschaftsriese“ heran wächst und dass es sich dabei um die „größte Demokratie der Welt“ handelt. Die „neue Region Jammu und Kaschmir“ wird dabei gerne ausgespart, weil das damalige Vorgehen sicherlich nichts mit Demokratie zu tun hat. Viele denken, dass Indien als kommender Wirtschaftsgigant (mit funktionierendem parlamentarischem System), eine bessere, weil Freiheit unterstützende Alternative zu China darstellt.
Im letzten Monat wurden fast zwei Millionen Inder in einem „Citizenship Check“ überprüft, der im schlimmsten Fall zu einer Ausweisung und/oder Verhaftung führt. Dieser „Check“ fand in Assam statt, einem Bundesstaat, der seine eigene Geschichte aus Konflikten und Spannungen zwischen Hindus und Muslime besitzt.
Spannt man den Bogen bei diesem „Check“ etwas größer auf, dann fällt auf, dass in Assam sehr viele Flüchtlinge aus Bangladesch einwandern, die vornehmlich muslimisch sind. Der „Citizenship Check“ ist die Antwort auf gewalttätige Verfolgungen in den 1980ern, bei dem Hunderte (manche sprechen von Tausende) muslimischer Migranten ermordet wurden. Um die einheimische Bevölkerung Assams zu beruhigen, hatte nun die Regierung einen solchen „Check“ aufgesetzt, um die illegalen Migranten identifizieren und gegebenenfalls ausweisen zu können.
Warum die indische drei Jahrzehnte mit dieser Maßnahme gewartet hat? Weil der aktuelle Premierminister Modi und die Hindunationalisten damit eine weitere Front in ihrem Krieg gegen die indische muslimische Minderheit führen können, was man zuvor nicht wollte.
Wie man sich vielleicht vorstellen kann, endete der „Check“ im Chaos, weil Einwohner Assams, die in Assam geboren sind und ihr ganzes Leben dort verbracht haben, sich teilweise nicht auf der offiziellen Bürgerliste wiederfanden und nun Gefahr laufen als illegale Migranten zu gelten und ausgewiesen zu werden. Die indischen Behörden bauen nun neue Gefängnisse in Assam, um Tausende dieser „Migranten“ inhaftieren, überprüfen und später des Landes verweisen zu können.
Doch was hat dieser „Check“ nun mit dem eingangs erwähnten „biometrischen Gefängnis“ zu tun? Die indische Regierung hat im letzten Jahrzehnt über eine Milliarde Einwohner in der weltweit größten biometrischen Datenbank erfasst: Aadhaar. Eine Datenbank, die eine digitale Fotografie, alle zehn Fingerabdrücke und Irisscans eines jeden erfassten Mannes, Frau oder Kindes in Indien umfasst. Diese Informationen werden eingesetzt, um eine einmalige 12-stellige Nummer zu generieren, die wiederum mit einer „Aadhaar-Karte“ verknüpft ist, und als nationale Identifikationsnummer dient.
Kombiniert man Aadhaar mt dem „Citizenship Check“ und findet man keine Verbindung der zu überprüfenden Person, kann man dieser Person einfach den Status als indischer Staatsbürger entziehen. Ein Plan, den die indische Regierung seit langem verfolgt. In Assam wird damit die Aadhaar-ID nicht nur zum Beweis der Existenz, sondern zum Beweis, dass diese Person auch indischer Staatsbürger ist.
Dummerweise ist Assam aber einer der Bundesstaaten, die weit hinten bei der Erfassung der Menschen im Aadhaar-Programm rangiert. Manche Regionen in Assam haben sogar erst im letzten Jahr damit begonnen ihre Einwohner per Aadhaar zu erfassen.
Das transportierte Propagandanarrativ ist eindeutig: jeder muss in dieser Datenbank erfasst sein, will er als indischer Staatsbürger gelten und sein Leben wie bisher führen, wenn er nicht Gefahr laufen will ausgewiesen zu werden. Natürlich alles nur zum Vorteil der Menschen, weil dieses revolutionäre System dabei hilft, seinen Teil des indischen Wohlfahrtsprogramms „abzubekommen“.
Auch beim Thema Steuern „hilft“ Aadhaar nur den Bürgern. So wurde es in diesem April verpflichtend, dass die Inder ihre PAN-Karte – eine „permanente Kontonummer“ in Form einer zehnstelligen ID, die bei allen Einkommenssteuerthemen benötigt wird – mit der 12-stelligen Aadhaar-ID zu verknüpfen. Damit kann jede Steuerzahlung eines Inders direkt mit seiner biometrischen ID verbunden werden.
Doch damit noch nicht genug. Die indische Regierung will diese biometrische ID mit allen Aspekten des täglichen Lebens verbinden – alles im Namen der Bequemlichkeit. Oder wie soll man auch anders das Problem der hoffnungslos überfüllten Züge und Autobusse in den Griff bekommen, wenn man nicht biometrische Fahrkarten ausgeben kann?
Und es ist doch letztlich mehr als unbequem mit Bargeld zu zahlen, wenn man ganz einfach mittels einer App, die mit der nationalen biometrischen ID verknüpft ist, seine Zahlungen auslösen kann.
Das beste an diesem ganzen Orwellschen System ist zudem, dass es billig, einfach und risikolos ist. Vielleicht abgesehen davon, dass es Milliarden Rupie gekostet hat und Aadhaar bereits gehackt wurde. Aber das sind natürlich nur Kleinigkeiten im Vergleich zu den positiven Dingen, die dieses System für ganz Indien mit sich bringt.
Diese indische biometrische ID sperrt letztlich über eine Milliarde Menschen hinter elektronische Gitter. Und denkt man einen Schritt weiter und kombiniert diese ID-Thematik mit dem in China eingesetzten Social Credit-System kann einem nur Angst und Bange werden, was auf die Menschheit zukommt. Denn niemand darf sich in Sicherheit wiegen, dass diese beiden Blaupausen nicht übereinander gelegt und exportiert werden.
Quellen:
The World’s Largest (Democratic!) Biometric Prison
Brookings India: A Conversation with Tom Friedman
Brookings India Launches with a Discussion Featuring Thomas Friedman and Vikram Mehta
Crisis in Kashmir: What Does It Mean?
A mass citizenship check in India leaves 2 million people in limbo
History of Assam
Website Aadhaar
AADHAR cards for Assam will be linked to National Register of Citizens
Aadhaar to finally roll out in Assam next month
From 2019, you will need Aadhaar to file your income tax
How a biometrics-based token system is reducing chaos on railway platforms
Aadhaar Payment App: Benefits, Requirement and Comparison
A security breach in India has left a billion people at risk of identity theft