Great Reset: Indiens Bauernproteste und Internetabschaltungen

Delhi-Indien - Bildquelle: Pixabay / Rhiannon; Pixabay LicenseDelhi-Indien - Bildquelle: Pixabay / Rhiannon; Pixabay License

Delhi-Indien – Bildquelle: Pixabay / Rhiannon; Pixabay License

Teil des „Großen Neustarts“ ist nicht nur der gesellschaftliche und der ökonomische Umbau, sondern auch der der Lebensmittelproduktion. Die deutschen Bauernproteste sind aus meiner Sicht erste Ausläufer davon. Doch gleichzeitig dürfte den wenigsten Bauern selbst, geschweige denn den Konsumenten klar sein, was der „Große Neustart“ für die Lebensmittelversorgung eines jeden von uns für Folgen haben wird. Parallel dazu nimmt die Zensur in den sozialen Medien weiter rasant zu, weil das Deutungsmonopol der Hochleistungspresse immer mehr wackelt. Zensur und Lebensmittelknappheit mögen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Doch der zweite Blick zeigt genau das Gegenteil. Ein Schwenk nach Indien kann vielleicht dabei hilfreich sein. Denn dort sind die Proteste und eine ausufernde Zensur bereits weit größer und die Folgen des Umbaus, getarnt und eingefädelt durch die P(l)andemie, trifft die Bevölkerung schon heute weit härter.

Die Erstürmung des Roten Forts in Delhi am 26. Januar 2021 markierte eine Eskalation der Spannungen zwischen der indischen Regierung – angeführt von Premierminister Narendra Modi – und den Bauern, die seit August 2020 gegen die Agrarreformen protestieren.

Die Aufnahmen der Zusammenstöße zwischen den Bauern und der Polizei, die viral gingen, haben das Interesse an der Bauernbewegung in der ganzen Welt geweckt, sehr zum Unmut von Modi.

Die Behörden reagierten schnell auf die Ereignisse am Roten Fort – einem historischen Gebäude, das symbolisch für die indische Unabhängigkeit steht und sich im Herzen von Alt-Delhi befindet. Die Polizei von Delhi schaltete das Internet in der Stadt ab, wovon mehr als 52 Millionen Mobiltelefonteilnehmer betroffen waren. Die Abschaltung war angeblich im Interesse der öffentlichen Sicherheit, aber es ist auch die jüngste Episode in Indiens langjähriger Geschichte von hartnäckigen Internet-Razzien – eine Strategie, die immer wieder verwendet wird, um anschwellende Protestbewegungen zu unterdrücken.

Indiens Kontrolle über das Internet ist vergleichbar mit einigen der autoritärsten Länder der Welt. Während Indien in Bezug auf die Zahl der mobilen Internetnutzer weltweit an zweiter Stelle steht, ist das Land auch führend bei der Abschaltung der entsprechenden Systeme. Sie werden mit erschreckender Regelmäßigkeit eingesetzt, um Protestbewegungen zu unterbinden und – wie im Fall von Kaschmir, wo derzeit die längste Internetsperre der Welt durchgeführt wird – um ganze Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren.

Während der Citizen Act-Proteste im letzten Jahr wurden Abschaltungen in Aligarh – der Heimat der Aligarh Muslim University – eingesetzt, einem der Zentren der Proteste, wo es zu schwerer Polizeibrutalität gekommen sein soll. Die indische Regierung hat allein im Jahr 2019 mehr als 106 Internetabschaltungen durchgeführt – die überwiegende Mehrheit als Reaktion auf Proteste.

Diese Kontrolle erfolgt größtenteils über die 2017 in Kraft getretenen „Temporary Suspension of Telecom Services (Public Emergency or Public Safety) Rules“, die die Befugnisse der Regierung zur Überwachung und Sperrung von Verbindungen erweitert und sie ermächtigt, Dissens und Opposition zu kontrollieren.

In Kaschmir, wo die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Rede- und Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt sind, fungieren Internetabschaltungen als „Tarnkappe“, um gegen abweichende Meinungen vorzugehen und Kaschmiris vom Rest der Welt zu isolieren. Da der Oberste Gerichtshof Indiens entschieden hat, dass unbefristete Internetabschaltungen illegal sind, drosselt die indische Regierung stattdessen die Mobilfunkverbindungen in Kaschmir von 4G auf 2G herunter und schränkt damit dauerhaft ein, was auf die Telefone angeschaut oder geladen werden kann.

Traktoren und Tränengas

Die jüngsten Ereignisse am Roten Fort waren auch ein Beispiel für Indiens Desinformations-Ökosystem. In einem entscheidenden Moment hissten einige Demonstranten eine den Sikhs heilige Flagge neben der indischen Flagge, obwohl die Führer der Bewegung sie aufforderten, herunterzukommen. Hunderte von Kameras hielten den Moment fest, in dem die Flaggen gehisst wurden, und luden Fotos in die sozialen Medien hoch.

Diese Bilder wurden sofort von Modi-treuen Social-Media-Influencern aufgegriffen, die eine Desinformationskampagne starteten, die sich im ganzen Land verbreitete und behauptete, die Flagge sei die der khalistanischen Separatisten. In Modis Indien werden Separatisten oft als Feinde des Staates dargestellt.

Bauerproteste Indien – Bildquelle: Rajat Gupta/EPA

Desinformationen verbreiten sich besonders schnell in Indien, da die genutzten Internetmobilanbieter den Zugriff auf soziale Medien billiger tarifieren als den Zugriff auf z.B. eine Google-Suche. Diese fehlende „Netzneutralität“ – die den Netzverkehr zu bestimmten Websiten gegenüber anderen bevorzugt – hält die Nutzer davon ab, das, was sie in den sozialen Medien sehen, auf Fakten zu überprüfen.

Als Reaktion auf die sich schnell verbreitende Flaggen-Desinformation wiesen Social-Media-Aktivisten, die mit den Bauern sympathisieren, schnell darauf hin, dass es sich bei der Flagge um die Sikh-Flagge „Nishan Sahib“ handelt. Sie zeigten, dass dieselbe Flagge an allen Sikh-Gurudwaras weht, von Regimentern der indischen Armee verwendet wird und sogar von Modi während seines Wahlkampfes im Punjab getragen wurde. Es ist unklar, wie erfolgreich diese Bemühungen, diese „Fake News“ zu neutralisieren, in einem Land mit mächtigen, staatlich unterstützten Medienunternehmen waren.

Verärgerte Moderatoren

Die Fernsehmoderatoren der staatlich unterstützten Nachrichtensender beschimpfen protestierende Bauern regelmäßig als khalistanische Separatisten, pakistanische Spione, Mitglieder der oppositionellen Kongresspartei oder Kommunisten. Mit der Verwendung von Schimpfwörtern wie „behuda“ (unverschämt), „badtameez“ (ungehobelt) und „gunda“ (Schläger) erhitzen diese Moderatoren bewusst die Gemüter. Zudem werden spezielle kürzere Clips für soziale Medien geschnitten. Diese Bilder gehen auf WhatsApp und Facebook über die üblichen Verbreitungskanäle viral und treiben die Unterstützung für das staatliche Vorgehen gegen Andersdenkende voran.

Wie beim Flaggenstreit wissen Indiens Aktivisten auch, wie sie den digitalen Raum nutzen können, um ihre Ziele zu erreichen. Sie posten Videos, veröffentlichen ihre eigenen Memes und Hashtags und setzen besonders stark auf Satire, Humor, Musik und Kunst.

Durch die Positionierung von Kameras an wichtigen Protestorten werden Zusammenstöße aufgezeichnet und in den sozialen Medien live gestreamt, wodurch angebliche Polizeibrutalität festgehalten und die öffentliche Debatte angeheizt wird. Unglücklicherweise werden solche Taktiken oft durch die übliche Vorgabe des Staates, das Internet komplett abzuschalten, zunichte gemacht.

Und in einem weiteren Versuch, abweichende Meinungen zu unterbinden, hat die Regierung Berichten zufolge kürzlich einen rechtlichen Hinweis an Twitter geschickt, der zur Sperrung mehrerer Konten führte, die mit den Protesten der Bauern in Verbindung stehen – was die Fähigkeit der Modi-Regierung offenbart, Gruppen und Einzelpersonen auch auf bestimmten Plattformen zu zensieren.

Abgesehen davon, dass sie das autoritäre Abdriften der „größten Demokratie der Welt“ signalisieren, sind Indiens Internetsperren auch eine teure Angelegenheit. Selbst wenn Modi verspricht, ein „digitales Indien“ aufzubauen, um die Wirtschaft des Landes anzukurbeln, kosten seine Internetabschaltungen Indien 2,8 Milliarden US-Dollar pro Jahr – das entspricht 70 Prozent der weltweiten Kosten für die Abschaltung des Internets im Jahr 2020. Dass er bereit ist, diese Rechnung zu bezahlen, zeigt, wie viel für Modi auf dem Spiel steht. Es ist an der Zeit, dass die Welt davon Notiz nimmt.

Quellen:
India farmers’ protests: internet shutdown highlights Modi’s record of stifling digital dissent
Farmers protest: 50 million subscribers hit by internet shutdown in NCR
India: Government orders shutdown of internet services in parts of New Delhi as farmers protest turns violent
Mobile internet usage worldwide – Statistics & Facts
Shutting Down the Internet to Shut Up Critics
Citizenship Act protests: Three dead and thousands held in India
Student’s hand amputated as violence grips citizenship protests
Übersicht Internet Shutdowns Indien
India’s internet shutdowns function like ‚invisibility cloaks‘
Twitter helps govt block accounts tweeting on farmer protests, withholds Kishan Ekta and other accounts
Global cost of internet shutdowns $4 bn in 2020, India share at 70%: report

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