William Shakespeares Hamlet wird von vielen als eine der größten Geschichten aller Zeiten angesehen. Hamlet umfasst alles: Schwertkämpfe, Selbstmord, Rache, Lust, Mord, Philosophie, Glaube, Manipulation und ein kulminierendes Blutbad, das eines Tarantino-Films würdig ist. Es ist ein Meisterwerk der hohen Kunst und der Sensationslust zugleich.
Nicht jeder mag Hamlet. Einer seiner größten Kritiker war der sowjetische Diktator Joseph Stalin. Stalins Hass auf das Stück ist fast schon zur Legende geworden, auch weil nicht klar ist, warum genau Stalin das Stück hasste. Ganze wissenschaftliche Abhandlungen sind der Beantwortung dieser Frage gewidmet. Der berühmte russische Komponist Dmitri Schostakowitsch deutet in seiner Autobiografie „Zeugnis“ an, dass Stalin das Stück als zu dunkel und potenziell subversiv ansah.
„[Stalin] wollte einfach nicht, dass die Leute Stücke mit Handlungen sahen, die ihm missfielen“, schrieb Schostakowitsch, „man weiß nie, was irgendeinem Verrückten in den Sinn kommen könnte.“
Stalin verbot das Stück jedoch nicht. Er ließ lediglich während einer Probe im Moskauer Kunsttheater, Stalins Lieblingstheater, verlauten, dass er Hamlet missbilligte.
„Warum ist das notwendig – Hamlet im Kunsttheater zu spielen?“, fragte der sowjetische Führer.
Das war alles, was es brauchte, sagte Schostakowitsch.
„Jeder wusste von Stalins Frage, die an das Kunsttheater gerichtet war, und niemand wollte es riskieren. Jeder hatte Angst“, bemerkte Schostakowitsch. „Und für viele lange Jahre wurde Hamlet nicht auf der sowjetischen Bühne gezeigt.“
Cancel Culture und Angst
Im Westen kann Hamlet bis dato aufgeführt werden. Doch die heutige „Cancel-Cultur“ hat viele Kunstwerke ausgelöscht – von Dr. Seuss-Büchern und Vom Winde verweht bis hin zu Disney-Filmen wie Peter Pan und Dumbo oder der „Umschreibung“ von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf.
Diese Kunstwerke werden nicht von staatlichen Zensoren verboten, sondern von Plattformen wie Youtube und anderen großen Webseiten, Online-Shops und Verlagen mit der Begründung zurückgezogen oder aus dem Sortiment genommen, dass sie angeblich kulturell oder rassistisch seien.
„Diese Bücher stellen Menschen auf eine Art und Weise dar, die verletzend und falsch ist“, sagte Dr. Seuss Enterprises der Associated Press, als man dort ankündigte, sechs Dr. Seuss-Bücher nicht mehr zu veröffentlichen, darunter And to Think That I Saw It on Mulberry Street und If I Ran the Zoo.
Ob diese Kunstwerke „kulturell unsensibel“ sind, ist eine subjektive Angelegenheit, genauso wie die Frage, ob Hamlet ein moralisch subversives Stück ist. Nun gibt es Leute, die bestreiten, dass Dr. Seuss überhaupt „abgesetzt“ wurde.
„Wir können darüber debattieren, ob es richtig war, dies zu tun, aber es ist wichtig, auf ein paar Dinge hinzuweisen“, schrieb der Filmkritiker Stephen Silver im Philadelphia Inquirer. „Die Entscheidung wurde von der Firma getroffen, die die Bücher besitzt und kontrolliert, nicht von der Regierung oder von einem ‚Mob‘, der sie unter Druck gesetzt hat.“
Silver hat Recht, wenn er anmerkt, dass es einen Unterschied zwischen staatlicher Zensur und Selbstzensur gibt. Aber seine Behauptung, dass kein Druck hinter den Kulissen ausgeübt wurde, rechtfertigt eine genauere Überprüfung.
Auch wenn es Unterschiede bzgl. einer staatlichen Zensur und einer privaten Selbstzensur gibt; beide sind extrem gefährlich. Schon George Orwell beobachtete:
Natürlich ist es nicht wünschenswert, dass eine Regierungsstelle irgendeine Macht der Zensur hat… aber die Hauptgefahr für die Gedanken- und Redefreiheit ist in diesem Moment nicht die direkte Einmischung der [Regierung] oder irgendeiner offiziellen Stelle. Wenn Verleger und Redakteure sich bemühen, bestimmte Themen aus dem Druck herauszuhalten, dann nicht, weil sie Angst vor Strafverfolgung haben, sondern weil sie Angst vor der öffentlichen Meinung haben. In diesem Land ist intellektuelle Feigheit der schlimmste Feind, dem sich ein Schriftsteller oder Journalist stellen muss, und diese Tatsache scheint mir nicht die Diskussion zu haben, die sie verdient.
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(Obviously it is not desirable that a government department should have any power of censorship… but the chief danger to freedom of thought and speech at this moment is not the direct interference of the [government] or any official body. If publishers and editors exert themselves to keep certain topics out of print, it is not because they are frightened of prosecution but because they are frightened of public opinion. In this country intellectual cowardice is the worst enemy a writer or journalist has to face, and that fact does not seem to me to have had the discussion it deserves.)
Was Orwell damit sagen wollte, ist, dass die Angst vor der öffentlichen Meinung auch zu Zensur führen kann. Letztlich wird die Zensur ins Privatrecht (NetzDG) verschoben, was wir am Besten wohl im Falle der Sozialen Netzwerke sehen können.
Um eines klarzustellen: wir kennen die Beweggründe von Verlagen, die beschließen, bestimmte Dr.-Seuss-Bücher nicht mehr zu veröffentlichen, nicht mit Sicherheit. Genauso wenig wie wir mit Sicherheit wissen können, warum Spotify plötzlich 42 Joe Rogan-Episoden löscht. Aber es ist zu vermuten, dass der Antrieb, der die Löschung der heutigen Werke vorantreibt, dem nicht unähnlich ist, der eine Aufführung Hamlets in der Sowjetunion unmöglich machte: Angst.
Furcht: Ein effektiverer Zensor als Verbote?
Stalins indirekter Verbot von Hamlet hat gezeigt, dass staatliche Verbote nicht die einzige Möglichkeit sind, freie Meinungsäußerung zu unterdrücken, und auch nicht die effektivste. Wie Schostakowitsch bemerkte, war Stalins Fähigkeit, Hamlet mit einem bloßen Wort abzusetzen, eine weitaus bessere Machtdemonstration als ein offizielles staatliches Verbot. Es bedurfte keines Gesetzes oder einer formellen Ankündigung. Alles, was es brauchte, war ein leises Wort und Angst, eine Emotion, mit der die Menschen heute mehr als vertraut sind. Das perfekte Konditionierungsinstrument.
Eine aktuelle Cato-Studie zeigt, dass die Selbstzensur in den USA auf dem Vormarsch ist. Zwei Drittel der US-Amerikaner geben an, dass sie aufgrund des politischen Klimas, das zunehmend vom „Wokeism“ dominiert wird, Angst haben, ihre Ideen und Gedanken in der Öffentlichkeit zu teilen.
Diese Ängste sind nicht irrational. Die Beispiele von Menschen, die gefeuert, angegangen und denen gekündigt wurden, weil sie auf der falschen Seite der „Woke“-Kultur standen, sind Legion. Das Phänomen führte im vergangenen Jahr zu einem Brief im Harper’s Magazine, der von Dutzenden führender Akademiker unterzeichnet wurde und das intolerante Klima anprangerte.
„Redakteure werden gefeuert, weil sie kontroverse Artikel veröffentlichen; Bücher werden wegen angeblicher Unauthentizität zurückgezogen; Journalisten wird verboten, über bestimmte Themen zu schreiben; gegen Professoren wird ermittelt, weil sie im Unterricht literarische Werke zitieren; ein Forscher wird gefeuert, weil er eine von Experten begutachtete akademische Studie in Umlauf gebracht hat; und die Leiter von Organisationen werden entlassen, weil sie manchmal nur ungeschickte Fehler gemacht haben“, heißt es in dem Brief. „Wir zahlen bereits den Preis in Form von größerer Risikoscheu unter Schriftstellern, Künstlern und Journalisten, die um ihren Lebensunterhalt fürchten, wenn sie vom Konsens abweichen oder auch nur nicht mit genügend Eifer zustimmen.“
Dieses Klima endet jedoch nicht bei Schriftstellern und Akademikern, die Angst haben, bestimmte Meinungen zu vertreten. Es reicht bis in die Vorstandsetagen von Unternehmen, wo Einzelpersonen unter Druck gesetzt werden, zu entscheiden, welche Kunst akzeptabel ist und welche Meinungen auf Plattformen geteilt werden dürfen.
Auf der falschen Seite der Debatte zu stehen, lädt zur persönlichen Zerstörung ein. Es ist einfach einfacher, zuzustimmen, „schädliche“ Kunst zu entfernen oder den Mitarbeiter zu feuern, der den Zorn des Twitter-Mobs auf sich gezogen hat.
„Die Leute haben Angst, sie herauszufordern“, sagte Robby Soave von Reason gegenüber John Stossel letztes Jahr in einem Interview zur Cancel Cultur.
Wie in Orwells 1984 muss man in der heutigen Zeit nicht einmal Falsches sagen, um dafür verurteilt zu werden. Fragen Sie nur Dr. Howard Bauchner, der im März als Chefredakteur der prominenten medizinischen Zeitschrift JAMA entlassen wurde. Bauchners Verbrechen war, dass sein stellvertretender Herausgeber während eines Podcasts im Vormonat die Existenz von strukturellem Rassismus in Frage gestellt hatte.
„Struktureller Rassismus ist ein unglücklicher Begriff“, sagte Dr. Edward H. Livingston, der weiß ist. „Persönlich denke ich, dass es hilft, Rassismus aus dem Gespräch zu halten.“
„Jeder hatte Angst“
Sicherlich riskiert man heute nicht die Liquidierung, wenn man sich dem Druck zur Selbstzensur von Kunstwerken oder eigenen Gedanken nicht beugt. Das kann man von der Sowjetunion unter Stalin nicht behaupten. Dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit, die sich durch beide Fälle von Zensur zieht: Angst.
„Alle hatten Angst“, sagte Schostakowitsch.
Dieselben Worte können auf diejenigen angewandt werden, die sich heute der Cancel Cultur beugen. Das soll nicht heißen, dass die Werke von Dr. Seuss kulturell unsensibel sind oder nicht, oder dass Hamlet schädliche oder subversive Themen enthält oder nicht. Es soll einfach nur sagen, dass hinter dem Verschwinden der Kunst und der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung die Angst lauert. Allein aus diesem Grund sollte man sich solchen Bestrebungen widersetzen.
Quellen:
How Stalin Canceled ‚Hamlet‘ in the Soviet Union—and What It Can Teach Us about Cancel Culture
Testimony: The Memoirs of Dmitri Shostakovich (Limelight) Paperback by Solomon Volkov
Dr. Seuss Books Are Pulled, and a ‘Cancel Culture’ Controversy Erupts
‚Gone with the Wind‘ pulled from HBO Max until it can return with ‚historical context‘
Disney+ pulls ‘Dumbo,’ ‘Peter Pan’ other films from children’s profiles over negative depictions
EBay removes listings for ‘banned’ Dr. Seuss books
6 Dr. Seuss books won’t be published for racist images
Why George Orwell’s Warning on ‚Self-Censorship‘ Is More Relevant Than Ever
Spotify Deletes 42 Joe Rogan Episodes
Poll: 62% of Americans Say They Have Political Views They’re Afraid to Share
A Letter on Justice and Open Debate
Cancel Culture Is Out of Control
JAMA Editor Placed on Leave After Deputy’s Comments on Racism
What Did Hamlet (Not) Do to Offend Stalin?