Überwachung: Das Recht auf „Vergessen werden“Lesezeit: 5 Minuten

Überwachungskamera – Bildquelle: Pixabay / ElasticComputeFarm; Pixabay License
Es gibt eine neurologische Erkrankung namens Prosopagnosie, die das National Center for Biotechnology Information als „die Unfähigkeit, bekannte und neue Gesichter zu erkennen (the inability to recognize known and new faces)“ definiert. In einigen veröffentlichten Studien zu dieser Krankheit – auch als Gesichtsblindheit bekannt – werden die Symptome als Beeinträchtigung der „Gesichtserkennung“, der „Gesichtsidentifizierung“ und des „Vergessens/Nichterinnerns von Gesichtern“ beschrieben.
Gibt es einen Unterschied zwischen Gesichtserkennung und Gesichtsidentifizierung, zwischen Vergessen und Nicht-Erinnern eines Gesichts? Aus medizinischer Sicht vielleicht nicht, aber aus biometrischer Sicht – insbesondere bei der Strafverfolgung – gibt es einen, und er kann tiefgreifend sein.
Viele Kameras können ein menschliches Gesicht erkennen, anders als beispielsweise ein Logo oder ein Buch. Wenn Sie das nächste Mal mit Ihrem Smartphone ein Foto machen, achten Sie auf die gelben Quadrate (wenn Sie ein iPhone verwenden), die sich sofort um die Gesichter im Bild bilden. Diese Funktion wird auch als Gesichtserkennung bezeichnet; bei vielen Geräten können Sie sie ausschalten. Diese grundlegende Fähigkeit, ein Gesicht zu erkennen, könnte man als Gesichtserkennung bezeichnen. Für die Strafverfolgung ist sie nur von begrenztem Nutzen, abgesehen vielleicht von der Suche oder dem Scannen nach Anzeichen menschlicher Anwesenheit. Die Fähigkeit, ein scheinbar menschliches Gesicht zu erkennen, ist jedoch nicht dasselbe wie die Fähigkeit, die Person zu identifizieren, um deren Gesicht es sich handeln könnte. Neurologisch gesehen mag die Gesichtsidentifizierung der Erkennung ähnlich sein, biometrisch gesehen ist sie jedoch ganz anders. Bevor eine Kamera Sie „erkennen“ kann, muss sie Ihr Gesicht mit etwas Präzisem vergleichen können – ein Prozess, der besser als Gesichtsabgleich bezeichnet wird. Der Gesichtsabgleich wird durchgeführt, wenn Ihr Gerät Ihre Identität bestätigen will, um Zugang zu Ihrem persönlichen Konto bei einem Online-Dienstanbieter zu erhalten oder Ihr Telefon zu entsperren. In diesem Zusammenhang handelt es sich um ein 1:1-Verfahren, bei dem das Gerät Ihr Bild mit dem in seinem „Speicher“ gespeicherten Bild abgleicht. Die Polizei nutzt dies zum Beispiel, um sich zu vergewissern, dass der Fahrer des von ihr angehaltenen Fahrzeugs tatsächlich die Person ist, die er vorgibt zu sein. Das Bild, das mit dem Gesicht abgeglichen wird, wird irgendwo in der Datenbank der Polizei gespeichert, vielleicht in einer Datenbank mit Personen, die gesucht werden oder verurteilt sind.
Der Gesichtsabgleich kann auf einer 1-zu-vielen-Basis (1:n-Verfahren) erfolgen, beispielsweise wenn die Polizei bei Ermittlungen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs ein Bild mit Bildern von Opfern und Tätern aus sichergestellten Aufnahmen vergleicht. Manchmal gibt es noch immer keine Informationen über die Identität der Person, sondern nur die Gewissheit, dass es sich bei der Person auf Video X um dieselbe Person handelt wie auf Dashcam Y oder Sicherheitskamera Z. Bei diesem Gesichtsabgleich besteht nicht die Gefahr, dass das Gesicht „vergessen“ wird: Wenn es in der Datenbank gespeichert ist, wird es nicht vergessen.
Der Prozess, bei dem eine Kamera die Gesichter vorbeigehender Personen erkennt und sie sofort mit einer programmierten Aufstellung vergleicht, geht über einen einfachen Abgleich hinaus. Das ist es, was die Leute oft im Kopf haben, wenn sie von Gesichtserkennungstechnologie (FRT) sprechen. In diesem Fall der „Live“-FRT gleicht die Kamera Passanten aktiv mit Gesichtern ab, die ihr gezeigt wurden, ähnlich wie ein Polizeihund, der nach jemandem sucht, der denselben Geruch verströmt wie das Kleidungsstück, das ihm gerade unter die Nase gehalten wurde. Wenn es keine Übereinstimmung zwischen dem vorbeigehenden Gesicht und der programmierten Galerie gibt, wird das Bild nicht gespeichert und das System hat keine weiteren Informationen darüber. Mit anderen Worten: Die Kamera hat Ihr Gesicht als Gesicht erkannt, kann Sie aber nicht identifizieren – weder jetzt noch in Zukunft -, weil sie nie „wusste“, wer Sie sind. Aus demselben Grund kann sie auch nicht „vergessen“, wie Sie aussehen. Diese Form der digitalen Prosopagnosie ist in die Live-FRT-Kameras integriert, die derzeit bei der Polizei im Vereinigten Königreich eingesetzt werden, und sie ist wohl weit weniger aufdringlich als ein Polizist, der Fotos von Menschen auf der Straße macht und die Abdrücke behält.
Kann Ihr Gesicht auf andere Weise in den Speicher eines FRT-Systems der Polizei gelangen? Ein großer Teil der Kontroverse um die Live-FRT geht darauf zurück, dass Menschen auf einer „Beobachtungsliste“ stehen, ohne polizeilich erfasst zu sein. In England und Wales gibt nach jüngsten Schätzungen mehrere Millionen Menschen, die einmal verhaftet wurden, gegen die aber nie ein Verfahren eingeleitet wurde – einige von ihnen haben ihren Weg auf die FRT-Überwachungslisten gefunden. Bedeutet dies, dass die Polizei nie ein Gesicht vergessen kann und mit jedem abgleichen darf, der jemals in ihren Gewahrsam gekommen ist? Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs nicht, aber viele (die meisten?) dieser Gesichter und persönlichen Identifikationsdaten sind noch in der Datenbank der Polizei gespeichert. Wenn eine Person möchte, dass ihr Gesicht von der Polizei „vergessen“ wird, muss sie einen Antrag auf Löschung des Bildes stellen.
Der Staat hat andere Möglichkeiten, Ihr Gesicht zu erkennen, wenn alle relevanten Systeme zusammenarbeiten. Ein aktuelles Beispiel ist die Führerscheindatenbank des Vereinigten Königreichs, die durch die Verknüpfung mit den neuen Befugnissen im Gesetz über Kriminalität und Polizeiarbeit für einige Unruhe sorgt. Auch Passbilder können abgefragt werden. Und natürlich sind wir selbst die größte Quelle für Gesichtsbilder. Hochgeladene Selfies und Beiträge in den sozialen Medien enthalten Milliarden von Gesichtern, die unsere denkwürdigen (auch abgleichbaren) Momente auf eine Art und Weise wiedergeben, die noch gar nicht absehbar ist. Sollte der Staat in der Lage sein, gesuchte Personen mit diesen abzugleichen? Das EU-Gesetz über Künstliche Intelligenz verbietet zwar Internet-Scraping, aber warum sollte die Polizei ihre Ermittlungen nicht in einer virtuellen Menschenmenge durchführen, um zu sehen, ob ihr Algorithmus jemanden wiedererkennt?
In dem Maße, in dem sich KI-gestützte (KI-getriebene, KI-ausgerüstete, KI-verbesserte?) Gesichtsabgleichsfunktionen weiterentwickeln, werden diese Unterscheidungen und Fragen an Bedeutung gewinnen. Die Algorithmen der Zukunft werden nicht nur Bilder abgleichen, sondern Rückschlüsse ziehen. Anhand genealogischer Informationen werden sie vorhersagen, wie Sie aussehen werden, bevor es Sie zu erkennen gibt, und Zero-Shot-Learning bedeutet, dass sie Gesichter „erkennen“ können, die sie noch nie gesehen haben. Wie werden wir das dann nennen?
Schöne Neue Welt, oder?
Quellen:
NIH – Prosopagnosia
UK revisits proposal to make a ‘vast police database’ from driving licenses
Biometrics Institute identifies dire need for clear language in biometrics and AI
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2 Antworten
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